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Einigung zur Diagnose und Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms erzielt

Zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jugendlichen sowie von Erwachsenen mit der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) wurde auf Einladung des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung eine Konferenz durchgeführt, auf der ein weitreichender Konsens über verbindliche Standards in der Diagnose und Behandlung des ADHS erzielt wurde. An der Konferenz waren Vertreter der Kinder- und Jugendmedizin, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Psychologie, weiterer Berufsgruppen sowie der Elternverbände beteiligt. 

Hierzu erklärt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung und Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Marion Caspers-Merk:

"Ich begrüße es sehr, dass die unterschiedlichen Berufs- und Fachgruppen, die mit der Behandlung der Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung konfrontiert sind, sich über wesentliche Kriterien zur Diagnose und Therapie einigen konnten. Es geht dabei in erster Linie um die Sicherstellung einer qualitätsgesicherten und bedarfsgerechten Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie der Gruppe von Erwachsenen mit ADHS. 
Dabei ist mir sehr wichtig, dass über den gezielten Konsens nun:


  • den betroffenen Familien und der Öffentlichkeit ein gemeinsames Verständnis über das Krankheitsbild und die Behandlung vermittelt wird,
  • die Verschreibung von Methylphenidat auf der Grundlage wissenschaftlicher Standards im Rahmen einer abgestimmten Diagnosestellung und multimodalen Therapie erfolgt,
  • eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Berufsgruppen über den Aufbau von regionalen und überregionalen Netzwerken unter Beteiligung der Elterverbände verbessert werden soll sowie
  • die Fachkompetenz der jeweiligen ärztlichen und nichtärztlichen Berufgruppen über den Aufbau eines fachübergreifenden modularen Fortbildungsangebotes zur ADHS sichergestellt wird.


Mit der Einigung verbinde ich die Hoffnung, dass wir die gesundheitliche Versorgung in der Diagnose und multimodalen Behandlung der ADHS wesentlich verbessern können. Ich erhoffe mir auch, dass die öffentliche Diskussion nicht weiterhin mit widersprüchlichen Botschaften und unverantwortlichen Botschaften zur medikamentösen Behandlung behaftet ist."

Der Inhalt der Übereinkunft ist in einem Eckpunktepapier zusammengefasst.

Eckpunkte der Ergebnisse der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung durchgeführten interdisziplinären Konsensuskonferenz zur Verbesserung der Versorgung von Kindern, Jungendlichen und Erwachsenen mit ADHS.

Bonn, 28. und 29. Oktober 2002

1. Aktuelle Prävalenzschätzungen zur ADHS gehen von 2 bis 6 % betroffenen Kindern und Jugendlichen zwischen
6 und 18 Jahren aus. ADHS ist damit eines der häufigsten chronisch verlaufenden Krankheitsbilder bei Kindern und Jugendlichen. Die bedarfsgerechte Versorgung dieser Patienten - die durch unterschiedliche Berufsgruppen getragen wird - ist derzeit nicht flächendeckend gewährleistet. Es besteht noch oft eine ungenügende Verzahnung kooperativer Diagnostik. Es fehlt häufig an verlaufsbegleitenden Überprüfungen der Diagnostik nach dem Einsetzen therapeutischer Maßnahmen.

2. Bei einem nicht unerheblichen Teil der Betroffenen dauern die Symptome bis ins Erwachsenenalter an. ADHS stellt somit auch bei Erwachsenen eine behandlungsbedürftige psychische Störung dar. Es fehlen hier verbindliche diagnostische Kriterien und angemessene Versorgungsstrukturen. Die Behandlung mit Methylphenidat erfolgt derzeit im Erwachsenenalter "off label", da dieses Medikament für die Behandlung von Erwachsenen bei dieser Indikation nicht zugelassen ist.

3. In der Öffentlichkeit besteht noch weitgehende Unkenntnis und Fehlinformation über das Krankheitsbild. Schulen, Tageseinrichtungen und andere Erziehungsinstitutionen sowie an der öffentlichen Gesundheitsfürsorge beteiligte Verwaltungen (Jugendamt, Gesundheitsamt, Sozialamt, Strafvollzug und Polizei) sollten verstärkt über ADHS informiert werden. Die Konsensuskonferenz erhebt die Forderung nach einem Awareness-Programm als gemeinsame Aktion.

4. Für eine korrekte Diagnosestellung der ADHS ist eine umfassende Diagnostik und Differenzialdiagnostik anhand anerkannter Klassifikationsschemata (ICD 10 oder DSM IV) erforderlich. Grundlage der Diagnosestellung sind Exploration und klinische Untersuchung mit Verhaltensbeobachtung. Die störungsspezifische Anamnese soll Familie und weiteres Umfeld (z.B. Schule) einbeziehen und zusätzlich erschwerende sowie entlastende Umgebungsfaktoren berücksichtigen. Fremdbeurteilungen durch Lehrer und Erzieher sollen einbezogen werden. Die Benutzung von Fragebögen als diagnostische Hilfen ist sinnvoll. Intelligenzdiagnostik und Untersuchung von Teilleistungsschwächen sollen das diagnostische Mosaik ergänzen. Die differenzialdiagnostische Abklärung zu anderen Erkrankungen mit ähnlichen (Teil-) Symptomen und die Erfassung von Begleiterkrankungen bildet einen notwendigen Baustein zur Diagnosesicherung. Eine solche mehrdimensionale Diagnostik bildet die Grundlage der multimodalen Behandlung. 
Die Diagnostik der ADHS ebenso wie die Therapie, auch die psychotherapeutische Behandlung, orientieren sich an den evidenzbasierten Leitlinien der beteiligten Fachverbände. Derzeit scheitert die multimodale Diagnostik noch in einigen Regionen Deutschlands an der Versorgungsrealität. Um die Versorgungsstruktur zu verbessern, ist Unterstützung der Politik erforderlich.

5. Eine qualitätsgesicherte Versorgung von ADHS ist unter Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen notwendig. 
Die Therapie der ADHS ist als multimodales Behandlungsangebot definiert. Nur ein Teil der Kinder bedarf der medikamentösen Therapie. Nach ausführlicher Diagnostik und erst wenn psychoedukative und psychosoziale Maßnahmen nach angemessener Zeit keine ausreichende Wirkung entfaltet haben, besteht die Indikation zu einer medikamentösen Therapie. Stimulanzien wie Methylphenidat stellen empirisch gesicherte Medikamente zur Behandlung der ADHS dar, wobei der langfristige Einfluss dieser Medikation auf die Entwicklung des Kindes verstärkt erforscht werden muss. Auch andere Medikamente haben ihre Wirksamkeit bewiesen. Im Vorschulalter soll erst nach Ausschöpfung aller Maßnahmen eine medikamentöse Behandlung im Einzelfall in Erwägung gezogen werden. Für die Behandlung sind spezielle Kenntnisse der biologischen, psychischen und sozialen Entwicklung des Kindes Voraussetzung.

6. Die spezielle Indikationsstellung zur medikamentösen Behandlung mit Stimulanzien ist im Einzelfall ebenso wie die Entscheidung über Zeitpunkt, Dauer und Dosis sorgfältig und entsprechend dem aktuellen wissenschaftlichen Standard zu treffen. Auf altersspezifische Besonderheiten im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter ist zu achten. Jede medikamentöse Behandlung mit Stimulanzien ist in ein umfassendes Therapiekonzept im Sinne einer multimodalen Behandlung einzubinden. Jede medikamentöse Behandlung bedarf als Mindeststandard einer intensiven ärztlichen Begleitung und ausführlichen Beratung. Die alleinige Verabreichung von Stimulanzien ist keine ausreichende Behandlungsmethode. Der Ausbau von Versorgungsstrukturen für begleitende psychosoziale und andere therapeutische Maßnahmen soll von der Politik intensiv unterstützt werden.

7. Die bedarfsgerechte Versorgung erfordert eine enge Zusammenarbeit der Ärzte untereinander (Kinder- und Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater, Allgemeinmediziner) und mit Psychologen, Psychotherapeuten, Pädagogen, Heilmittelerbringern (z.B. Ergotherapeuten) und Selbsthilfeverbänden. Die enge Zusammenarbeit mit weiteren an der gesundheitlichen Versorgung beteiligten Berufsgruppen ist notwendig. Erziehungsberatungsstellen sollen unter einer pädagogischen Zielsetzung im Rahmen kooperativer Netzwerke tätig werden. Auch Kindergärten, Tagesstätten und Schulen sowie weitere psychosoziale Bereiche sollen unter Einschluss der Jugendhilfe in das Behandlungsnetzwerk als Kompetenzpartner einbezogen werden, um einer schädlichen Desintegration der Kinder vorzubeugen.

8. Je nach Fachgruppe und therapeutischer Ausbildung besteht eine unterschiedliche Qualifikation zur Behandlung von ADHS. Die Verbesserung der Qualifikation muss daher differenziell erfolgen. Angestrebt wird ein modulares Fortbildungskonzept mit unterschiedlicher Gewichtung der Inhalte. Grundlage dieses Konzeptes soll empirisches Tatsachenwissen über Entstehung, Verlauf und Therapie von ADHS sein. Die Grundlage für interdisziplinäre Zusammenarbeit bildet ein allen Berufsgruppen zugängliches Basiswissen, dessen Vermittlung eine gezielte Fortbildung der unterschiedlichen Beteiligten erfordert. Eine fachübergreifende gemeinsame Fortbildung im Sinne einer wechselseitigen Erkenntniserweiterung ist anzustreben und ermöglicht eine qualifizierte Kooperation.

9. Interdisziplinäre Zusammenarbeit beruht auf der Fachkompetenz und dem wechselseitigen Respekt der beteiligten Berufsgruppen. Die Verantwortung für die Koordination der interdisziplinären Behandlung liegt in der Hand des zuständigen Arztes. Ziel ist ein abgestimmtes multimodales störungsspezifisches Vorgehen zur Behandlung der Kernsymptomatik und der Begleitstörungen auf Evidenzbasis.

10. Aus berufspolitischer Sicht der beteiligten Verbände besteht Klärungsbedarf im Hinblick auf Leistungsanreize und eine leistungsgerechte Honorierung bzw. Finanzierung der Versorgungstätigkeit. Unter Einbezug von Leistungsträgern müssen solidarische Finanzierungsmodelle im Rahmen der Leistungen der SGB V, VIII und IX gewährleistet sein. Die Politik soll ihren Einfluss im Rahmen der Zuständigkeiten geltend machen.

11. Regionale und überregionale Netzwerke sollen gebildet und die vorhandenen Netzwerke ausgebaut werden. Von der Politik wird eine Hilfestellung bei der Bestandsaufnahme bestehender regionaler Netzwerke gewünscht. Diese regionalen Netzwerke sollen die Umsetzung der Leitlinien in die Praxis unterstützen. Die Politik soll die Bildung qualifizierter interdisziplinär orientierter Arbeitsgruppen zum Thema ADHS unter Einbezug von Betroffenenvertretern begleiten und unterstützen.

12. Zum Thema ADHS besteht weiterhin erheblicher Forschungsbedarf. Dies betrifft sowohl den langfristigen Einfluss medikamentöser Therapien, besonders des Methylphenidats auf die Entwicklung des Kindes, als auch empirische Untersuchungen zur Wirkungsweise weiterer Behandlungsmaßnahmen bei ADHS. Auch die Intensivierung der Forschung zur Evaluation der Struktur-, Verlaufs- und Ergebnisqualität in Bezug auf diese unterschiedlichen Therapieverfahren und der bedarfsgerechten Versorgung ist notwendig und erwünscht.

Parlamentarische Staatssekretärin und Drogenbeauftragte der Bundesregierung
Frau Caspers-Merk

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendlichpsychiatrie
Prof. Dr. Resch

Für die Gesellschaften der Kinderheilkunde und Jugendmedizin
Dr. Skrodzki

 

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